Neulich stand ein älterer Herr vor mir am Bäckerstand und verlangte zu seinen Brötchen das – Zitat – „Lügenblatt mit den vier Buchstaben“, welches marktstrategisch-ausgeklügelt neben den duftenden Kuchenstückchen zum Probieren liegt. „Wie gehabt!“, sagte er noch. Er gab also Geld aus und das anscheinend nicht zum ersten Mal, um eine Zeitung zu kaufen, von der ahnt, dass sie ihn nicht informiert, sondern ihn desinformieren und manipulieren will. Heureka! Das muss die so oft formulierte Entscheidungsfreiheit der westlichen Welt sein, etwas freiwillig auszuwählen, das einen vorsätzlich verdummen will. (Mit Ausnahme des GEZ-Rundfunks, der ist zwangsfinanziert.) Der Kunde hat die Wahl und entscheidet sich für ein Produkt, von dem er, wie im geschilderten Ereignis, von vorne herein um seine Unglaubwürdigkeit weiß. Der Bürger gibt Bares für eine Ware aus, die seiner Ansicht nach die Realität falsch wiedergibt. Die Gewissheit oder Erfahrung wird jedoch kurzzeitig vergessen, vom Tisch gewischt. Warum? Weil sich Mogelmärchen besser konsumieren lassen als knallharte Fakten? Weil die Wahrheit in Print nicht ansehnlich ist? Oder weil die anderen Presseerzeugnisse, die ja vorhanden sind, nicht so auffällig platziert Geschichten verkaufen? Und besteht darin der Nutzen für den Käufer, der es entgegen der Vernunft haben will? In diesem Falle wird ja etwas erworben trotz des Wissens um die Unaufrichtigkeit, in anderen Fällen vermutlich unwissend oder unbewusst. Das ist zwar des Menschen Recht, seine Freiheit, ob es besonders schlau ist, ist eine andere Sache. Jedenfalls erhalten die Macher hinter den printbunten Fassaden dadurch ihre Einkünfte und die Leser dieses Gewerbe am Laufen.

Unweigerlich fühlte ich mich an Wahlumfragen erinnert. Da geben Menschen an, sie wählen eine Partei, weil sie die schon immer gewählt haben, weil es Ankündigungen regnet (die nie umgesetzt werden) oder weil der Spitzenkandidat aus dem Nachbarort kommt, die Kandidatin so schöne Kostüme trägt und ganz tolle Politik verspricht oder es beim Wahlkampfstand leckeren Kuchen oder saftige Grillwürste gab. Nicht wegen des Parteiprogramms, das haben sie gar nicht gelesen oder glauben es nicht, nicht wegen des Inhaltes, auch nicht wegen des Nutzens, nicht wegen der tatsächlichen Arbeit der Politiker, vielleicht nicht einmal wegen der Aufmachung auf den Plakaten und schon gar nicht wegen zu erwartender Folgen. Denn auch hier stellt sich die Frage nach dem Nutzen für den Bürger. Worin besteht er, anders formuliert: Was bringt es Parteien zu wählen, welche nicht bürgernah, nicht konstruktiv, nicht ehrlich agieren? Und warum wird beim Wählen die Wirklichkeit ausgeblendet, verdrängt, als ob sie für fünf Minuten entfallen wäre? Diese „unpopulistischen“ Parteien appellieren schließlich vor allem an die Vergesslichkeit ihrer Wähler. Sie setzen auf die Gedächtnislücke in der Wahlkabine. Augenscheinlich zurecht, irgendwer wählt die ja immer wieder. Es muss daher etliche „vergessliche Bürger“ geben. Wer kennt sie auch nicht, die Mitmenschen, die ständig über bestimmte Politiker und Parteien schimpfen, heimlich in der Wohnung oder publikumswirksam auf dem Marktplatz und dann trotzdem genau diesen ihr Kreuzlein schenken. Oder die alten Stammwähler, deren Wahlverhalten nichts mit der aktuellen Agenda ihrer Partei zu tun hat. Die Stagnationsstimmabgeber. Und das ganz ohne kommunistischem Zwang oder sozialistische Alternativlosigkeit. Aus freien Stücken. Manche bekennen das offen, merken dabei nur nicht, dass ein solches Verhalten, sage ich vorsichtig, die Frage nach Logik und Sinnhaftigkeit aufwirft. Von der gesellschaftlichen Verantwortung ganz zu schweigen. Schlecht für die Gesellschaft, aber gut für die derart „Ausgewählten“.

Was ist, fragte ich mich, wenn sowohl beim Kauf des Blattes mit den großen Lügenlettern am Bäckerstand als auch beim Gang in die Wahlkabine oder dem Öffnen der Briefwahlunterlagen so etwas wie „Gedächtnisverlust“ eintritt und der Käufer bzw. Wähler das, was er bezüglich der Sache weiß und erlebt hat über Bord wirft, aus der Großhirnrinde löscht, vom Speicherplatz entfernt und in eine Art irrationalen Rauschzustand gerät? Ein unvernünftiger Zustand, der ihn dazu bringt Lügenblätter zu konsumieren oder bürgerfeindliche Parteien auf dem Zettel anzukreuzen. Weil er oder sie sich gerne belügen lässt und glauben will (!), was erzählt wird. Weil das kurzfristig ein gutes Gefühl gibt und jemandem, der „gut“ gewählt hat schließlich nichts passieren könne. Ging ja stets gut aus, kann man sich einreden. Oder weil man das schon immer so gemacht hat. Oder aus dem Rausch heraus, etwas auszuwählen, das „von oben“ angepriesen wird, man will ja dazu gehören und nicht ausgegrenzt werden, etwas mitzumachen, das von Meinungsmachern angeraten wird, man soll sich ja korrekt verhalten. Oder weil jemand in seiner Weltfremdheit festgefahren ist. – Darüber lohnt sich doch das Nachdenken! – Dann hätten wir natürlich immer noch eine Demokratie, jedoch eine, die auf den Erinnerungs- und Wissenslücken von Bürgern basiert, die vergessen haben, wer sie einer zunehmenden islamistischen Gefahr und steigender Kriminalität aussetzt, wer ihnen schrumpfende Spareinlagen und sinkende Renten einbrachte und wer ihnen ideologischen Unsinn in der Bildung zugemutet hat. Vom tatsächlichen Leben abweichendes Konsumieren und Wählen. Der eine Teil des Geistes lehnt etwas ab, der andere, wählende Teil macht es mit. Die Flucht in die Fantasie auf auf dem Wahlzettel. Der vom Wissen bereinigte Wahlvorhang. Das Kreuz für die Katz‘.

Den durch dieses unlogische Entscheidungsverhalten am Futtertrog gehaltenen Parteien müsste dann auch an Bürgern gelegen sein, welche die Realität vergessen und den verheißungsvollen Versprechen kurz vor Wahlen glauben wollen. Oder anders ausgedrückt: Einige Parteien bauen sicherlich auf den Gedächtnisverlust ihrer Anhänger beim Wahlvorgang. Sie werden an der Macht gehalten, wenn auch zunehmend mit Stimmeinbußen, weil die Wähler vergessen haben, wer sie verraten, verspottet oder verkauft hat. Sie werden gewählt entgegen Logik und Geradlinigkeit. So wie die Auflagen einiger Zeitungen darauf basieren, wenn auch mit Rückgängen, dass es Leute gibt, die ihre paar Groschen für Medien ausgeben, die ihre Leser für dumm verkaufen. Beides „scheint“ gar Hand in Hand zu gehen oder sich zumindest zu ergänzen: Was die Presse nicht druckt, wird dann nicht erinnert, wenn es drauf ankommt. Und das nicht nur einmal, sondern von Wahl zu Wahl bzw. Ausgabe zu Ausgabe, über Jahre und Jahrzehnte. Denn mal ehrlich, gewisse Parteien und Verlage würden sich ja nicht so lange halten, wenn sie sich nicht immer wieder auf das vergessliche Verhalten der Menschen am Wahl- und Zahltag verlassen könnten. An ihrer politischen bzw. aufklärenden Arbeit kann es immerhin nicht liegen, dass sie ausgewählt werden, die spricht eher gegen sie. Umgekehrt spricht dann eine wirklich aufgeklärte, geistig eigenständige Gesellschaft gegen die selbst erwählte Gedächtnisabgabe an der Urne oder Kasse. Und die Frage, inwieweit das Wahlerhalten der Gesellschaft von dem Anspruch abweicht, den die Wirklichkeit formuliert, beantwortet sich am besten durch die Realität selber: Innere Sicherheit und soziale Errungenschaften, deutsche Tradition und europäische Werte erodieren. Die Zukunft ist ungewiss, dank der „vergesslichen Wählerschaft“.

Erschreckend ist daher gar nicht einmal so sehr, warum es passiert, dass der Bürger kurzfristig sein „Gedächtnis verliert“, das mag menschlich sogar nachvollziehbar sein, wenn es auch „unklug“ ist. Sondern, dass diese „dissoziative Demokratie“ sich schon über einen langen Zeitraum hält. Wider besseren Wissens der Bürger. Wider den Folgen dieses wiederkehrenden Gedächtnisverlustes. Und gefährlich ist das, wozu dies alles führt, nämlich über die freiwillige Entmündigung des Souveräns – der seine Freiheit dazu gebraucht, seine Entscheidungsfähigkeit aufzugeben – zur Auflösung der Gesellschaft.

 

Nadine Hoffmann