Ein grauhaariger Mann, ein Tisch, eine Ikealampe und ein Stuhl – mehr braucht es nicht, um etwa einhundertfünfzig Hörer, meist oberhalb der 40 oder 60 Lebensjahre, auch einige jüngere, eineinhalb Stunden zu vollkommen disziplinierter Aufmerksamkeit zu zwingen? Dieses Publikum muß in seiner Gesamtheit erreicht werden, so daß die unterschiedlichen Berufe, Lebenswege, Charaktere und Bildungsgrade gleichermaßen konzentriert zuhören. Thilo Sarrazin kann das. Sein Thema ist hochkompliziert, trotzdem vermittelt er es jedem. Den Normalbürger in diesem Land holt er erst einmal aus dem Nachrichtenwust von Rettungsschirmen und Milliardentransfers heraus.
An den Anfang stellt er einen „Crashkurs in Geldpolitik“, aber mit diesem Titel stapelt er tief. Er schafft es, uns unglaublich kurz aber ruhig das Wesen des Geldes wieder bewußt zu machen. Er beginnt beim Gold, der ersten italienischen Banknote (Nota), der goldgedeckten Währung und landet unmerklich in unserem heutigen Finanzsystem. Die reale Lage in Europa und Deutschland beschreibt er objektiv und belegt Sachverhalte. Unser Hauptmedium Fernsehen entzieht sich regelmäßig realen Sachverhalten, indem realitätsverneinend gewichtet, verdreht, wiederholt und weggelassen wird.
Vielleicht wehrt sich die innere, manchmal unbewußte Vernunft der Menschen gegen diese Dauermanipulation der Tatsachen, die Zuhörer im Saal waren jedenfalls ausnahmslos von den schlüssigen Ausführungen Thilo Sarrazins gefangen, obwohl er keinerlei Hilfsmittel außer dem Mikrofon benutzte. Sarrazin brachte den Kardinalfehler des derzeitigen Eurosystems auf den Punkt – es verstößt ganz einfach gegen die menschliche Natur. Italien hat es in hundertfünfzig Jahren nicht geschafft, das wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle zu besiegen, trotz gemeinsamer Sprache und einer Regierungsordnung, wie will Merkel noch mehr in fünf Jahren in diesem Europa schaffen? Was nützt ein Versprechen einer Regierung, wenn in fünf Jahren eine ganz andere Situation im Land herrscht? Können Versprechen von Reformen überhaupt die Basis von tatsächlich zu bezahlenden Bürgschaften sein? Der Gläubiger wird immer gehaßt, mit den Auflagen für deutsches Geld haben die Nehmerländer sogar ein Argument, die Deutschen für den Sozialabbau verantwortlich zu machen, obwohl sie die Milliarden von eben diesem Land abfordern. Diese Eurorettungsmaßnahmen, egal ob sie Eurobonds, ESM oder sonstwie heißen, können nicht gut ausgehen, das weiß Thilo Sarrazin. Aber er bleibt realitätstreu und sagt die Art des Endes der Krise nicht voraus, nur, daß die EZB den EURO unbedingt weiter halten wird, daß die Regierungen immer weiter die Haftung erweitern werden, die Schulden weiter steigen.
Wenn Sarrazin Kanzler wäre, würde er jedenfalls nicht weiter zahlen, nur auf Reformversprechen hin. Die beiden Scheidewege waren die Einführung des EURO und der Bruch des Maastrichtvertrages
2010, einen Weg zurück gibt es nicht, am Ende wird eine neue, andere Lage unser Leben bestimmen. Ein Zuhörer fragte, was Sarrazin von der AfD halte, dem derzeitigen Chef Lucke gab der Autor seine
Zustimmung, warnte aber vor rechter Unterwanderung. Er hoffe, daß die Partei sich zusammenfinde; jede neue Partei ist eben auch Zulauf für Verrückte. Er habe die Hoffnung für eine neue, liberale Partei, die unser Land dringend braucht. Auf meine Frage „Sehen Sie irgendjemanden in den herrschenden Parteien, der die Kompetenz und den Willen hat, im Interesse unseres Landes gegenzusteuern?“ kam die klare Antwort: „Nein, auch nicht in meiner eigenen Partei“. Thilo Sarrazin gab auch eine Erklärung für das unnatürliche Verhalten unserer Volksvertreter, es sei die S E L B S T B I N D U N G der politischen Klasse. Im Saal war es in diesem Moment noch etwas stiller, vielleicht, weil diese Aussage in ihrer Hoffnungslosigkeit so gewaltig ist. Ein Intellektueller, der ein Sachbuch schrieb, das so viele Menschen wie nie zuvor kauften, muß in unserem Land heute geschützt werden. Die Polizei war im Saal verteilt, arbeitete professionell und fiel in Zivilkleidung nicht auf.
Autor: Bodo Matzat